Text 1:

Was ist Wissenschaftsforschung?

Im allgemeinsten Sinne verstanden ist Wissenschaftsforschung eine Metadisziplin, die sich mit den anderen Wissenschaften sowie mit deren Einbettung in verschiedene Kontexte befaßt.
Dies wirft zunächst einige begriffliche Fragen auf. Zwei davon sind die folgenden:

1. Was sollen wir unter "Wissenschaft" verstehen?

Wir sehen drei Möglichkeiten:

a) Wir legen eine bestimmte Definition von Wissenschaft zugrunde und arbeiten bis auf weiteres damit. Der Nachteil dieser Strategie besteht darin, daß diese Definition von vielen nicht anerkannt werden wird. Bislang gibt es kein allgemein akzeptiertes Abgrenzungskriterium für Wissenschaft (vgl. Text 2). Dies legt die folgende Modifikation der Begriffsbestimmung nahe:

b) Wir halten uns an historische, bzw. kontextuale Bestimmungen: Wissenschaft wäre dann das, was in einer bestimmten Zeit dafür gehalten wurde. Das hätte einschneidende Konsequenzen. Bei einer Untersuchung der Wissenschaft der Antike und des Mittelalters wären zum Beispiel Astrologie und Alchimie mit einzuschließen. Der Nachteil dieser Bestimmung ist, daß sich auch die Wissenschaftler anderer Zeiten nicht über die Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft einig waren. Man wird kaum einen Bereich des Wissens finden, der nicht vom einen oder anderen der Beteiligten als Bestandteil seriöser Wissenschaft gewertet wurde. Kontextuale Definitionen haben deshalb den Nachteil, immer enger zu werden und im Extremfall nur noch auf einzelne Personen zuzutreffen. Wenn dies so ist, können wir den Versuch einer Definition von Wissenschaft fallenlassen und uns der dritten Möglichkeit des Zugangs zuwenden.

c) Wir verstehen Wissenschaft als Spezialfall einer kognitiver Tätigkeit, die darauf abzielt, gewisse Bereiche der Wirklichkeit symbolisch zu strukturieren. Der Nachteil dieser Umschreibung ist, daß sie auch Religionen, Ideologien und Mythologien mit einschließt. Andererseits gibt es keine klare Grenze zwischen den genannten Ideenkomplexe und der Wissenschaft. Es scheint also sinnvoll, mit einer sehr allgemeinen Definition zu beginnen und Einschränkungen je nach Forschungsproblem und Forschungsstand erst später und fallweise vorzunehmen.

2. Welche Kontexte sind von Bedeutung?

Sie hängen von der Zeit, den konkreten Umständen und den gerade interessierenden Problemen ab. Es geht hier - soziologisch gesprochen - um die Interpenetration von Wissenschaft und anderen Subsystemen einer Gesellschaft: Ökonomie, Politik, Recht, Kultur, Religion usw. Wo die bedeutsamen Interaktions- und Konfliktfelder liegen, kann nur in Ansehung des konkreten Falles entschieden werden.

Nach diesen Vorklärungen können wir folgende Aspekte der Wissenschaftsforschung unterscheiden:

a. Die Wissenschaftsforschung richtet sich auf Wissenschaft als System von Aussagen, Theorien, Fakten, Methoden, Experimenten. Wie weit dieses System jeweils gefaßt wird, hängt vom behandelten Problem ab. Spezialgebiete, Disziplinen, Gruppen von Disziplinen, intertheoretische Relationen, Beziehungen zwischen verschiedenen Spezialgebieten oder Disziplinen - all dies ist kann zum Gegenstand der Wissenschaftsforschung werden. Dieser Zweig der Wissenschaftsforschung hat eine historische und eine systematische Dimension. Zur ersten gehören Teile der bisherigen Wissenschaftstheorie, zur zweiten Teile der Wissenschaftshistoriographie.
b. Wissenschaftsforschung thematisiert wissenschaftliches Denken auch in seiner psychologischen Dimension als kognitiven Prozeß und als kognitive Struktur, wobei beide zunächst in den einzelnen Wissenschaftlern selbst zu lokalisieren sind. Die Wissenschaftsforschung weist also Schnittflächen mit der neuen integrativen Disziplin der Kognitionswissenschaft auf.

c. Wissenschaftsforschung untersucht Wissenschaft als sozial organisierte Handlungs- und Kommunikationssysteme, die einen "Hardware"- und einen "Software"-Aspekt haben. Zum ersten zählen beispielsweise Institute, Bibliotheken, Kommunikationseinrichtungen, Labors, Geräte, Computer. Der zweite Aspekt umfaßt unter anderem die rechtlichen und sozialen Normen, die die Benutzung dieser Einrichtungen regeln, vor allem aber die spezifischen Verhaltensweisen und Strategien, die sich in der wissenschaftlichen Arbeit der in mehr oder weniger formalisierte Kommunikations- und Handlungszusammenhänge und eingebundenen Akteure herausbilden.
Besonders interessant für die Wissenschaftsforschung ist hierbei der Einfluß der genannten Faktoren auf die kognitiven Produkte der Wissenschaft. Dieser Bereich wurde bislang vor allem von der Wissenssoziologie sowie der Wissenschaftssoziologie behandelt.

d. Wissenschaftsforschung behandelt Wissenschaft als Subsystem der Makro-Gesellschaft, in soziologischer Terminologie: als institutionalisierte Produktionsinstanz des generalisierten Tauschmediums "Wissen". Diese Funktion deutet darauf hin, daß man auch hier wieder einen "Hardware"- und einen "Software"-Aspekt unterscheiden kann.

Diese Explikation erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder auf Beständigkeit. Da sich der Gegenstand der Wissenschaftsforschung entwickelt, muß sie ihre Konzepte dieser Entwicklung anpassen und Antworten auf neue Fragen finden. Die Aufteilung ist analytisch zu verstehen - was heißt, daß die Bearbeitung konkreter Problem oft die Integration der verschiedenen Aspekte und Ebenen erfordern wird.

Welche Beziehungen hat die Wissenschaftsforschung zu benachbarten Disziplinen?

Von den spezialisierten Teildisziplinen - wie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftspsychologie oder Wissenschaftssoziologie - unterscheidet sich Wissenschaftsforschung weniger durch ihre Inhalte oder Probleme als durch das Bemühen, die verschiedenen Ebenen und Aspekte von Wissenschaft zu verknüpfen und auf diese Weise zu einer vernetzten Beschreibung des Objektbereichs zu gelangen. Durch diese integrierende Sichtweise können zugleich neue Beziehungen und Abhängigkeiten ins Blickfeld geraten, die einer stärker fragmentierten Betrachtungsweise verborgen bleiben. So wird eine Analyse von Wissenschaft als sozial organisiertes Handlungs- und Kommunikationssystem nur zu ihrem eigenen Schaden auf die Berücksichtigung wissenschaftstheoretischer und kognitiver Aspekte verzichten können. Neuere Versuche, die diese Trennung ernsthaft betreiben, um sich dem tatsächlichen Wissenschaftsprozeß in der Weise ethnographischer Feldforschung zu nähern, wirken in Resultat und Argumentation - ungeachtet ihrer sonstigen Verdienst - zuweilen recht naiv und unbeholfen.

Welchen Status hat die Wissenschaftsforschung im System der Wissenschaften?

Die Wissenschaftsforschung ist eine Metawissenschaft, aber keine Überwissenschaft. Dies war eine Illusion, von der sich die Wissenschaftstheorie in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten auf schmerzhafte Weise befreien mußte hat. Da die Wissenschaftsforschung selbst als Realwissenschaft auftritt, kann sie nicht sicherer sein als diejenigen Wissenschaften, deren Entwicklung oder Struktur sie beschreibt. Sie hat aber auch keinerlei Anlaß, sich in ihren Beurteilungen stärker zurückzuhalten als jene. Diese Bemerkung richtet sich vor allem gegen den Versuch einer Reduktion der Wissenschaftsforschung auf eine Ethnographie des Wissens. Da die Wissenschaftsethnographen in der Regel von einer relativistischen Wissenschaftsauffassung ausgingen, konnten sie natürlich für ihre eigenen Analysen keinen Sonderstatus beanspruchen.

Bei der Überwindung dieser pessimistischen Position könnten neue Verfahren wie die Zitations- und Cozitationsanalyse eine wichtige Hilfestellung leisten, da sie auf klar formulierte Hypothesen hinsichtlich wissenschaftlicher Entwicklungsprozesse oft recht präzise Antworten geben können.

Welche Methoden verwendet die Wissenschaftsforschung?

Die Wissenschaftsforschung verwendet heute außer den klassischen Methoden der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftshistoriographie immer häufiger quantitative bibliometrische Verfahren. Das sind Verfahren, die zunächst von Bibliotheks- und Dokumentationswissenschaftlern für ihre eigenen Zwecke entwickelt worden waren - etwa zur Klassifikation von Büchern, zur Abschätzung der Bedeutung von Zeitschriften innerhalb ausgewählter Fächer oder zur Messung der relativen Anteile bestimmter Nationen am Zitationsvolumen von Disziplinen. Heute ist aus einem Hilfsmittel für Bibliothekare eines der herausragenden Instrumente der Wissenschaftsforschung geworden, das sich vielfältig einsetzen läßt, aber auch Grenzen hat.

Welche Fragen lassen sich damit behandeln?

a. Wir können damit individuenbezogene Analysen durchführen, indem wir zum Beispiel die Verteilung von Zitationen nach Lebensalter, Stellung, Ausbildung und wissenschaftlicher Produktivität untersuchen. Hieraus kann man Maßzahlen gewinnen, die sich wiederum mit Variablen wie wissenschaftliche Anerkennung oder Nichtanerkennung, oder die Geschwindigkeit der Verbreitung von Informationen in Beziehung setzen lassen.

b. Wir können zum zweiten statistische Maßzahlen zur Charakterisierung abstrakter Zitationsgesamtheiten entwickeln. Abstrakte Zitationsgesamtheiten sind Einheiten des Wissenschaftsprozesses, die nicht in einem Interaktions- oder Kommunikationszusammenhang stehen - etwa die Verteilung von Zitationen nach Zeit, Land, Fach, bestimmten Kategorien von Institutionen, Disziplinen oder Zeitschriften.

c. Wir können zum dritten langfristige Veränderungen globaler Parameter von Zitationsmustern messen, die zum Beispiel durch Wandlungen in den Zitationsnormen und im Zitationsverhalten bedingt sind. Ursachen für solche Wandlungen sind vielfältiger Natur: neue redaktionelle Richtlinien von Zeitschriften, neue Formen der Kommunikation und der Vermittlung wissenschaftlicher Resultate, Strukturveränderungen des Wissenschaftssystem, Expansion des Publikationsvolumens, nicht zuletzt aber auch Versuche der Wissenschaftsverwaltungen, Leistung in der Wissenschaft zu messen.

Dies sind Probleme, die sich mit relativ einfachen Verfahren angehen lassen. Es gibt jedoch auch Methoden der Wissenschaftsforschung, mit denen sich kompliziertere Probleme der Wissenschaftsgeschichtsschreibung lösen lassen.

d. Seit etwa 20 Jahren gibt es komplexere Verfahren der Zitationsanalysen, die für die Wissenschaftsforschung sehr ergiebig sind. Ich will hier vor allem zwei Formen der Auswertung von Zitationsdaten nennen, von denen die erste als Cozitationsanalyse bekannt ist. Ihr Potential für eine quantitativ abgesicherte Wissenschaftsgeschichtsschreibung ist bisher nur zum geringeren Teil ausgeschöpft. Man kann damit die Entwicklung von Disziplinen analysieren und die Ergebnisse mit Hilfe multidimensionaler Skalierung in eine Art dreidimensionale Karte transformieren. Dies ergibt eine plastische und zuverlässige Darstellung der Brennpunkte und der internen Struktur einer Disziplin. Je nach der Form der Clusterung kann man damit eher die kognitive oder eher die soziale bzw. institutionelle Struktur einer Disziplin wiedergeben. Wenn man diese Karten in geeigneter zeitlicher Reihenfolge staffelt, bekommt man ein anschauliches Bild der Entwicklung einer Disziplin. Wir haben hier ein Instrument zur Verfügung, mit dem man - zumindest für die letzten zwei Jahrhunderte - die qualitative Wissenschaftshistoriographie korrigieren und verbessern kann. Es wäre hochinteressant, die Geschichte verschiedener Disziplinen einmal mit Hilfe dieses Instrumentes zu untersuchen. Mit Sicherheit ließe sich auf diese Weise eine Vielzahl perspektivische Verzerrungen, die im Rückblick auf vergangene Zeiten unvermeidlich sind, korrigieren. Überraschungen sind gewissermaßen vorprogrammiert.

Zum zweiten lassen sich aus den gleichen Daten, die in der Cozitationsanalyse zur Berechnung kognitiver und sozialer Landkarten wissenschaftlicher Disziplinen oder Forschungsfelder benutzt werden, mit Hilfe anderer Verfahren statistische Kennziffern entwickeln, die als Indikatoren für Entwicklungsphasen von Disziplinen verwendbar sind. Damit wird zugleich eine Brücke zwischen Szientometrie und Theorie der Wissenschaftsgeschichte geschlagen. Damit kann man zum Beispiel Modelle der Wissenschaftsentwicklung wie das von Thomas S. Kuhn empirisch - und zwar quantitativ - testen.

Welche Aufgaben stellen sich der Wissenschaftsforschung in naher Zukunft?

1. Sie muß die Funktionsweise und die Zuverlässigkeit des Peer-Review-Systems untersuchen. Diese Aufgabe hat oberste Priorität, weil formale Kriterien wie Zahl der Publikationen, der Preise, der Zitationen sowie die Höhe der eingeworbenen Drittmittel von der Wissenschaftspolitik immer häufiger als Maßstäbe der Leistungsbewertung und der Finanzierung der Universitäten oder gar der individuellen Besoldung in Betracht gezogen werden. Das Peer-Review System ist der Filter, der darüber entscheidet, welche Leistungen überhaupt in die Bewertung eingehen dürfen und hat insofern eine überragende strategische Bedeutung.

2. Die Wissenschaft wird heute von der Politik und der Verwaltung immer dringlicher zur Erarbeitung praktisch relevanter, technisch umsetzbarer und gesellschaftlich nützlicher Ergebnisse ermahnt. Hinter dieser neuen Politik könnte sich eine Fehleinschätzung der Funktion und der Wichtigkeit der Grundlagenforschung verbergen. In einer Delphi-Studie der Baseler Prognos AG und der Infratest Burke Sozialforschung, die noch von unseren ehemaligen Bundeswissenschaftsminister Rüttgers in Auftrag gegeben wurde, heißt es nach einem Bericht der FAZ zum Beispiel: "Wissen wird immer systematischer als universales Instrument zur Problemlösung genutzt. Deshalb wird es eine völlig zweckfreie Grundlagenforschung in der Wissensgesellschaft schwer haben. Die meisten Wissensgebiete dienen der wirtschaftlich-technischen Leistungsfähigkeit, während kaum noch mit einer dynamischen Entwicklung des Wissens gerechnet wird". Dies wird als Zusammenfassung einer Befragung von etwa 1000 Fachleuten aus verschiedenen Bereichen präsentiert! Um möglicherweise gefährliche Irrtümer zu korrigieren, die zur self-fulfilling-prophecy werden könnten, ist es dringend notwendig, den Nutzen und die Aufgaben der Grundlagenforschung detaillierter als bisher zu untersuchen - und zwar in historischer wie systematischer Perspektive.

3. Es ist dringend notwendig, die Konsequenzen der neuen Medien für die Wissenschaft - Kommunikationssystem, soziale Beziehungen, Gewohnheiten und Normen der Publikation und des Zitierens, usw. - zu untersuchen.